Kapitel
Verbrechen in Bad Honnef

Der Fall Jens Bleck

Warum musste der junge Bonner sterben?

Der Albtraum

Der Alptraum nimmt kein Ende. Seit zwei zermürbenden Jahren warten Alma und Torsten Bleck auf eine Antwort. Warum musste ihr Sohn sterben? Die Eltern sind mit ihrem Latein am Ende. Und mit ihrem Vertrauen. „Aber noch nicht mit unserer Kraft.“

Vor einem Jahr hatten sie neue Hoffnung geschöpft: Nachdem der General-Anzeiger im Herbst 2014 auf Versäumnisse bei den Ermittlungen hingewiesen hatte, kam wieder Bewegung in die Wahrheitsfindung; Zeugen meldeten sich, eine engagierte Bonner Staatsanwältin übernahm den Fall, die Kripo setzte zusätzliches Personal ein, neue Spuren wurden verfolgt. Offenbar mit Erfolg. Denn die Ermittler hatten nun zwei Tatverdächtige im Visier. Verdacht des Totschlags. Alles schien zu passen: Motiv, Mittel, Gelegenheit. Alles schien nur noch eine Frage der Zeit…

Dieser Tage erhielt der Anwalt der Eltern Post von der Bonner Staatsanwaltschaft – mit einer für Alma und Torsten Bleck niederschmetternden Nachricht: Das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt.

Der 19-jährige Jens Henrik Bleck. Foto: Privat

Der 19-jährige Jens Henrik Bleck.
Foto: Privat

Jens Henrik Bleck aus Bad Godesberg war 19 Jahre alt, als er starb. Die Eltern sahen ihren Sohn zum letzten Mal lebend, als sie den Jurastudenten am Abend des 8. November 2013 gegen 20 Uhr in Mehlem absetzten. Dort feierte ein ehemaliger Schulfreund Geburtstag.
Von dort fuhr die noch neunköpfige Geburtstagsgesellschaft am späten Abend mit der Stadtbahn nach Bad Honnef, um in der Diskothek „Rheinsubstanz“ in unmittelbarer Nähe der Endhaltestelle der Linie 66 weiter zu feiern.

Zwei Wochen lang galt Jens Henrik Bleck als vermisst; bis der Vermisstenfall zum Todesfall wurde: Am Abend des 24. November 2013 teilte die Polizei den Eltern mit, dass der Leichnam ihres Sohnes im Rhein gefunden wurde. 50 Kilometer flussabwärts, in Stammheim im Nordosten Kölns. Vollständig bekleidet, inklusive des dunkelblauen Trenchcoats, am Handgelenk trug er noch das Bändchen, das man an der Kasse der Diskothek erhielt, wenn man die Eintrittspauschale von 15 Euro entrichtet hatte.

Außerdem trug Jens sein Handy und seinen Personalausweis bei sich, als er zu Tode kam. Nicht aber seine Geldbörse samt EC-Karte und Studentenausweis. Denn die hatte er in der Nacht vor der Diskothek einem Polizeibeamten gegeben – auch wenn die Polizei am nächsten Morgen den Eltern gegenüber versicherte, man habe die Geldbörse am Rheinufer gefunden.

Die Sache mit der Geldbörse blieb nicht die einzige Merkwürdigkeit in diesem Fall. Die Staatsanwaltschaft Bonn erklärte den Eltern noch im Sommer des vergangenen Jahres, Köln sei zuständig, und dort habe man die Ermittlungen eingestellt. Die Kölner Staatsanwaltschaft indes versicherte Alma und Torsten Bleck das Gegenteil: Man habe gar nicht einstellen können, weil man für die Ermittlungen gar nicht zuständig sei. In Köln sei lediglich die Rechtsmedizin wegen des Fundortes der zunächst unbekannten männlichen Leiche mit der Obduktion befasst gewesen. Bonn sei zuständig. Derweil wurde die Akte zwischen Köln und Bonn hin- und hergeschickt. Bis die Kölner Staatsanwaltschaft im Sommer 2014 ganz deutlich wurde: Man erwarte, dass die Staatsanwaltschaft Bonn umfassend die Möglichkeit eines Fremdverschuldens und eines möglichen Anfangsverdachts prüft und die Angehörigen entsprechend unterrichtet. Monate nach dem Tod des 19-Jährigen konnte zumindest dies geklärt werden: Bonn ist zuständig. Und die Eltern fragen sich: Wenn es für die Klärung dieser Frage Monate benötigte – mit welcher Intensität wurde wohl in der Zwischenzeit ermittelt?

Suizid?

Die Frage scheint nicht unberechtigt. Zunächst versuchte ein Beamter der Bonner Kripo den Eltern einzureden, ihr Sohn habe höchstwahrscheinlich Suizid begangen. Das sage ihm seine Berufserfahrung. Die Beschäftigung mit der Biografie des jungen Mannes oder mit Menschen aus dem persönlichen Umfeld des 19-Jährigen, mit denen der General-Anzeiger sprach – seine ehemaligen Lehrer am Friedrich-Ebert-Gymnasium, die Bonner Jusos, die Kommilitonen an der Kölner Universität, seine Professorin Barbara Dauner-Lieb, Mitglied des Verfassungsgerichtshofes NRW und Beauftragte des Deutsch-Französischen Studiengangs Rechtswissenschaften der Universitäten Köln und Paris-Sorbonne – hätten den Kripo-Beamten rasch eines Besseren belehren können: Jens sah zuversichtlich in die Zukunft, er hatte Pläne, er zeigte keinerlei Anzeichen von Depressionen. Sein Umfeld schilderte ihn als freundlich, gesellig, entwaffnend ehrlich und mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn ausgestattet: „Er hat sich nie verbogen, er hat seine Meinung gesagt, er hat nie anderen Leuten nach dem Mund geredet.“ Vielleicht wurde ihm dieser Charakterzug zum Verhängnis.

Er hat sich nie verbogen, er hat seine Meinung gesagt, er hat nie anderen Leuten nach dem Mund geredet. Freunde von Jens Bleck

Nach dem Fund des Leichnams und dem bei der Obduktion festgestellten Alkohol im Blut wurde die Suizid-Theorie aufgegeben und eine neue These aufgestellt: Jens Henrik Bleck randalierte betrunken in der Disco, wurde deshalb rausgeworfen, stürzte dann, nicht mehr Herr seiner Sinne und seiner Bewegungsmotorik, in den Rhein und ertrank. Ein Unfall also.
Kriminologen kennen das „Dilemma der falschen Grundannahme“: Hat sich einmal eine scheinbar plausible Theorie im Kopf verfestigt, besteht die Gefahr, dass andere denkbare Möglichkeiten unbewusst vernachlässigt werden. So ist das menschliche Gehirn nun mal gestrickt. Auch muss die Unfall-Version nicht vor Gericht bewiesen werden – im Gegensatz zum Fremdverschulden.

Trotz des von der Kölner Rechtsmedizin festgestellten Blutalkohols wirkte Jens Bleck auf Augenzeugen – vor allem auf jene, die sich von Berufs wegen mit alkoholisierter Kundschaft auskennen – keineswegs betrunken. Taxifahrer, Türsteher, sie sagen fast unisono: „Er hat nicht gelallt, ist nicht geschwankt. Ich erlebe jedes Wochenende Betrunkene. Aber der war anders. Panisch. Dieser starre Blick…“

Die Discothek "Rheinsubstanz". Foto: Volker Lannert

Die Discothek „Rheinsubstanz“.
Foto: Volker Lannert

Möglicherweise wurden Jens Bleck, ohne dass er es ahnte, einige Tropfen Gammahydroxybuttersäure (GHB) ins Glas geträufelt, in einschlägigen Kreisen auch Liquid Ecstasy und im Volksmund K.o.-Tropfen oder Vergewaltigungsdroge genannt; geruchlos, geschmacklos und schon nach wenigen Stunden medizinisch nicht mehr nachweisbar. Außerdem können sich die Opfer, sobald die Wirkung nachlässt, an nichts mehr erinnern. Einer der Schulkameraden klagte über einen mehrstündigen Filmriss, eine andere Besucherin der Discothek wurde in der Nacht mit einem Rettungswagen abtransportiert. Und nach der Veröffentlichung im General-Anzeiger meldeten sich Leser, deren Kinder nach der unwissentlichen Einnahme von K.o.-Tropfen ein verblüffend ähnliches Verhalten wie Jens gezeigt hatten.

Die Todesnacht

Die Ereignisse jener Nacht des 8./9. November lassen sich inzwischen deutlicher rekonstruieren als noch vor einem Jahr oder gar vor zwei Jahren:

23.49 Uhr
Jens und seine ehemaligen Schulkameraden verlassen die Stadtbahn der Linie 66 an der Endhaltestelle und betreten Minuten später die Diskothek „Rheinsubstanz“. Die (inzwischen geschlossene) Bad Honnefer Diskothek im ehemaligen städtischen Hallenbad füllte sich stets erst am späten Abend. An den besseren Wochenenden zählte die Rheinsubstanz 500 Gäste pro Abend, nach Mitternacht tummelten sich mitunter 300 Menschen auf der Tanzfläche im trocken gelegten Schwimmbecken.
1.52 Uhr
Jens tritt mit dem Handy am Ohr aus der Diskothek in den Vorraum, wo sich Kasse und Garderobe befinden. Alma Bleck ist sofort hellwach, als ihr Handy klingelt. Die Mutter sieht die Kennung ihres Sohnes im Display und drückt die Empfang-Taste. „Jens?“ Laute Stimmen, streitende, keifende Frauenstimmen, dazwischen die Stimme ihres Sohnes sowie eine weitere männliche Stimme. Alma Bleck ruft ins Telefon: „Jens? Bitte antworte doch!“. Aber Jens reagiert nicht. Die Verbindung bricht ab.
1.54 Uhr
Jens betritt erneut den Vorraum, spricht dort wild gestikulierend mit der Garderobenfrau, der Schichtleiterin, der Kassenfrau. Später sagen die drei Mitarbeiterinnen, Jens Bleck sei sehr aufgebracht gewesen und habe verlangt, die Geschäftsführung zu sprechen. Sie versichern, der Gast habe nicht konkret benannt, worüber er sich beschweren wollte. Aber er habe gedroht, den Laden zu verklagen, dann werde die Diskothek geschlossen.
2.02 Uhr
Die Schichtleiterin schiebt Jens zum Ausgang. Jens leistet keinen Widerstand, redet aber aufgebracht weiter. Später sagt die Schichtleiterin dem General-Anzeiger, sie habe dem Gast wegen seines Verhaltens Hausverbot erteilt und des Gebäudes verwiesen.
2.03 Uhr
Jens passiert den draußen auf dem Vorplatz aufgestellten Imbisswagen und geht in Richtung Taxistand.
2.04 Uhr
Alma Blecks Handy klingelt erneut. „Hallo, hier ist Jens Bleck und ich stehe vor der Rheinsubstanz.“ Alma Bleck entgegnet: „Jens? Was ist los?“ Jens antwortet: „Ach so, entschuldigen Sie bitte.“ Alma Bleck: „Jens, ich bin es doch, deine Mutter. Wo bist du?“ Jens: „In Bad Honnef.“ Dann bricht die Verbindung ab. Die Eltern versuchen mehrmals, ihren Sohn zurückzurufen. Ohne Erfolg. Schließlich schreibt Torsten Bleck seinem Sohn eine SMS: „Bitte melde dich.“ Doch die SMS erreicht den Empfänger nicht, weiß der Vater. Denn sein Handy ist so eingestellt, dass eine Empfangsbestätigung einginge, wenn das Gerät seines Sohnes empfangsbereit wäre. Natürlich machen sich die Eltern Sorgen. Aber sie trösten sich damit, dass er ja nicht allein unterwegs ist, sondern bei seinen ehemaligen Schulkameraden; dass er vermutlich in die Diskothek zurückgekehrt ist und dort nun keinen Empfang mehr hat. Was sie nicht wissen und nicht ahnen können: Jens ist draußen und längst von seinen Freunden isoliert. Warum sein Handy ab diesem Zeitpunkt nicht mehr reagiert, bleibt bis heute ein Rätsel.
02.08 bis 02.10 Uhr
Zwei junge Männer und eine junge Frau verlassen wenige Minuten nach Jens die Diskothek. Sie werden später als jene drei Zeugen identifiziert, die von der Brücke zur Insel Grafenwerth aus gesehen haben wollen, wie ein Mensch unter der Brücke hindurch im Rhein trieb und um Hilfe schrie (s. 02.52 Uhr).
2.13 Uhr
Um diese Zeit hätte in dieser Nacht die letzte Bahn der Linie 66 die Endhaltestelle Bad Honnef in Richtung Bonn verlassen. Normalerweise. Sie fährt aber nicht. Wegen nächtlicher Gleisbauarbeiten seit Mitternacht.
2.04 bis 2.42 Uhr

Wann genau in diesem 38-minütigen Zeitfenster sich die folgenden Ereignisse zugetragen haben (und was sich in dieser Zeit vielleicht außerdem noch zugetragen hat), lässt sich nicht exakt feststellen. Am nächsten Tag wird ein sogenannter Mantrailer eingesetzt, ein speziell ausgebildeter Spürhund. Alma Bleck stellte der Polizei dafür ein getragenes Kleidungsstück ihres Sohnes zur Verfügung. Der Hund nimmt auf dem Gelände die Spur auf und rekonstruiert ein bizarres Bewegungsmuster, das zum Beispiel rund um das benachbarte Gebäude einer in der Nacht geschlossenen Gaststätte führt. War Jens Bleck auf der Flucht? Wollte er sich verstecken?

Nachweislich wendet sich der Student in diesem Zeitfenster an einen der Taxifahrer am Wartestand, krümmt sich dabei vor Schmerzen, reibt sich den Bauch: „Können Sie mir bitte helfen? Ich habe Angst. Die sind hinter mir her. Die wollen mich töten. Können Sie mich bitte nach Hause fahren? Nach Bad Godesberg. Ich habe nicht mehr genug Geld, aber eine EC-Karte. Wenn Sie kurz am nächsten Bankautomaten halten, kann ich Sie bezahlen.“

Der Taxifahrer lehnt ab. Er und seine Kollegen haben schon zu oft schlechte Erfahrungen mit jungen Leuten gemacht, die an der nächsten roten Ampel aus dem Wagen springen, ohne zu zahlen. Gefahren wird grundsätzlich nur gegen Vorkasse. „Junge, wenn du Stress hast: Da hinten steht doch die Polizei.“

Jens geht zu dem etwa zehn Meter entfernten Streifenwagen. Die Beamten nehmen einen Autounfall auf. Ein großer, weißer Audi ist etwa eine halbe Stunde zuvor gegen einen Laternenmast gerast, der Verursacher hat sich längst aus dem Staub gemacht. Sachschaden, kein Personenschaden, niemand außer dem Flüchtigen war an dem Unfall beteiligt. Die Taxifahrer beobachten, wie Jens die beiden Polizisten anspricht, wie einer der Beamten ihn verärgert anraunzt und wegschiebt, weil der junge Mann im Spurenbild steht. Jens kehrt zu den Taxifahrern zurück. Angst in den Augen.

Einer der jüngeren Fahrer erklärt sich bereit, ihn zu fahren. Da schaltet sich ein älterer Kollege ein: „Nix da. Nur gegen Vorkasse!“ Jens geht erneut zu den Polizisten. Die Taxifahrer beobachten, wie der 19-Jährige aufgefordert wird, sich auszuweisen, daraufhin seine Geldbörse zückt, einer der Beamten sie entgegennimmt und einsteckt. Zwei junge Männer erscheinen am Unfallort. Sie gehören nicht zu Jens’ Clique. Nach Beobachtung der Taxifahrer „ein Südländer und ein Osteuropäer“. Sie nehmen Jens vor den Augen der beiden Polizeibeamten in die Mitte, legen den Arm um ihn und behaupten, sich nun um ihn zu kümmern. Wenig später sieht einer der Taxifahrer, dass Jens heftig aus der Nase blutet und sich die beiden
Fremden mit dem 19-Jährigen entfernen.

Erst zehn Tage später wird nach diesen beiden unbekannten Männern erstmals öffentlich gefahndet. Ohne Erfolg. Den Eltern wird auf Nachfrage mitgeteilt, eine Verbindung zum Tod ihres Sohnes sei aber ohnehin auszuschließen. Dabei hatte es inzwischen einen bemerkenswerten Hinweis gegeben: Am 22. November 2013 rief eine junge Frau am späten Nachmittag bei der Bonner Kripo an. Die Brücken-Zeugin (s. 02.08 Uhr, 02.52 Uhr und 02.55 Uhr). Ihr sei noch etwas eingefallen: Die Beschreibung in der öffentlichen Fahndung, die sie gelesen habe, passe auf einen ihrer beiden Begleiter, mit denen sie sich zur fraglichen Zeit außerhalb der Diskothek aufgehalten habe. Der Beamte erstellte über das Telefonat einen Aktenvermerk. Der wurde aber erst fast ein Jahr später in die Ermittlungsakte aufgenommen. Inzwischen erscheinen immer mehr Schaulustige auf dem Vorplatz der Diskothek und kommentieren lautstark das Geschehen am Unfallort. Die Streifenwagenbesatzung fordert sicherheitshalber Verstärkung an. Wenig später fährt ein zweiter Streifenwagen vor.

2.42 Uhr

Jens stürmt durch den Eingang zurück in das Innere der Diskothek und versucht, in der Nähe der Toiletten auf die gesperrte Galerie zu gelangen. Auf der Treppe fängt ihn die Schichtleiterin mit Hilfe von zwei Türstehern ab. Die führen ihn zurück zum Ausgang, die beiden Türsteher packen ihn an Arm und Nacken. Jens wehrt sich diesmal mit Händen und Füßen gegen den Rauswurf, hält sich am Türrahmen fest. Vergeblich. Um 2.44 Uhr läuft er vom Vorplatz der Diskothek in Richtung Brückenauffahrt.

Einer der ehemaligen Schulfreunde beobachtete zufällig die Szenerie in der Disco: „Jens hatte so einen merkwürdig leeren Blick. Er hat mich gar nicht wahrgenommen, als er von den Türstehern an mir vorbei geschoben wurde.“ Er informiert einige Mitglieder der Geburtstagsgesellschaft in der Disco. Doch man beschließt nach kurzer Diskussion, Jens nicht nach draußen zu folgen. Weil man dann ja möglicherweise das Eintrittsgeld neu entrichten müsste. Immerhin wurde um 02.46 Uhr der Versuch unternommen, Jens telefonisch zu erreichen. „Aber das Handy war tot.“

2.50 Uhr
Ein Abschleppwagen verlässt mit dem verbeulten weißen Audi den Unfallort.
2.52 Uhr
Der zweite Streifenwagen, die angeforderte Verstärkung, rast vom Unfallort zur Brückenauffahrt. Alarmiert von den grellen Schreien einer Frau. Auf der Brücke kommen den Beamten drei junge Leute entgegen. Zwei Männer und eine Frau (s. 02.08 Uhr). Die beiden Männer schildern den Beamten, ein Mensch sei im Wasser unter der Brücke hindurch getrieben, habe wild mit den Armen gerudert und um Hilfe gerufen. Doch in der Dunkelheit der Neumondnacht und bei der vom Hochwasser verursachten Fließgeschwindigkeit von rund zehn Stundenkilometern können die Beamten schon nichts mehr sehen.
2.55 Uhr
Die junge Frau von der Brücke betritt die Diskothek und sucht die Damentoilette auf. Die Polizeibeamten haben zuvor versäumt, sie zu befragen und ihre Personalien aufzunehmen. Und ihre beiden männlichen Begleiter auf der Brücke behaupten, die Frau gar nicht zu kennen. Nicht mal ihren Namen. Erst Wochen später wird die 17-Jährige identifiziert und vernommen. Als Minderjährige hätte sie die Einlasskontrolle der Rheinsubstanz gar nicht überstehen dürfen. Weil offiziell nur Erwachsene Zutritt haben.
2.57 Uhr
Ein unbekannter Mann verlässt die Damentoilette. Zwei Minuten später verlässt die Brücken-Zeugin die Damentoilette, diskutiert eifrig gestikulierend mit einem unbekannten Mann, verschwindet schließlich gemeinsam mit ihm wieder in der Damentoilette.
3.15 Uhr
Ein Rettungsfahrzeug mit einem Boot fährt über den Vorplatz zum Rheinufer in Höhe des Yachthafens.

Nach dem Bericht im General-Anzeiger im Herbst 2014 meldet sich ein Paar aus dem Kreis Neuwied in der Redaktion. Ehemalige regelmäßige Gäste der Rheinsubstanz – bis zum 31. Oktober 2013, eine Woche vor Jens Blecks Tod, als man spätabends auf dem Parkplatz der Disco einen blutüberströmten, brutal zusammengeschlagenen jungen Mann fand. Das Paar beschloss, die Diskothek fortan zu meiden: „Drinnen und draußen – das waren zwei verschiedene Welten. Drinnen war Friede, Freude, Eierkuchen. Draußen war die Hölle.“

Nach der GA-Veröffentlichung wird auch erstmals der Betreiber der Imbissbude vernommen. Die Geschehnisse jener Nacht auf dem Vorplatz waren dem Mann so merkwürdig vorgekommen, dass er davon mit seinem Handy ein Video fertigte. Auch ein Türsteher, der nur drei Tage nach jener Nacht telefonisch bei der K-Wache des Präsidiums freiwillig seine Aussage angeboten hatte, wird nun, ein Jahr später, vernommen.

Hier endet die Spur.
Foto: Frank Homann

Außerdem meldet sich bei der Kripo – ein Jahr nach ihrer ersten Vernehmung – die junge Frau, die in der Nacht, als Jens Bleck starb, mit zwei männlichen Begleitern auf der Brücke stand. Die Lektüre des General-Anzeigers habe sie emotional sehr aufgewühlt, deshalb wolle sie ihre ursprüngliche Aussage ergänzen, um ihr Gewissen zu beruhigen. In ihrer ersten Vernehmung hatte sie erklärt, Jens Bleck nie begegnet zu sein und lediglich eine unbekannte Person gesehen zu haben, die unter der Brücke hindurch im Wasser trieb. Nun, ein Jahr später, räumt sie ein, sie und ihre beiden Begleiter seien dem Studenten an jenem Abend gleich zwei Mal begegnet. Erstmals am Fuß des Treppenaufgangs zur Brücke. Der Student sei gekommen und habe ihre beiden Begleiter gefragt, warum sie denn Drogen nähmen. Darauf habe einer der Jungs sehr verärgert reagiert. Dann sei das Trio (ohne Jens) hinauf zur Brücke gegangen – bis zur ersten der beiden Ausbuchtungen in der rechten Brüstung. Die Jungs hätten sich dort in Ruhe eine Nase reingezogen.

Die Spur endet

Diese Ausbuchtung ist genau jene Stelle, an der am Folgetag der eingesetzte Mantrailer jäh stoppte, seine Vorderläufe auf die steinerne Brüstung stemmte und seinem Hundeführer damit zu verstehen gab: Hier ist die Spur zu Ende. Das Mädchen aber behauptet, Jens sei an ihnen vorbei über die Brücke zur Insel gegangen, ohne dass es zu einem weiteren Gespräch gekommen sei, sagte Oberstaatsanwalt Robin Faßbender, Leiter der Abteilung Kapitalverbrechen, dem GA am Freitag auf Anfrage. Jedoch will sie wenig später gesehen haben, wie Jens auf einer Kaimauer am Ufer der Insel Grafenwerth stand, von dort ins Wasser fiel und unter der Brücke hindurch flussabwärts trieb.

Der Blick vom Steeg auf die Brücke. Der Steeg stand in der Nacht unter Hochwasser. Foto: Frank Homann

Der Blick vom Steg auf die Brücke. Der Steg stand in der Nacht unter Hochwasser.
Foto: Frank Homann

Schon physikalisch kann das Ende dieser Geschichte so nicht stimmen. Denn von ihrem Standort aus konnte die Zeugin die Kaimauer gar nicht sehen – nicht einmal am helllichten Tag oder bei derzeitigem Niedrigwasser. Denn die jenseitige Brüstung der Brücke versperrt die Sicht. Zudem war in jener Nacht Neumond, das Inselufer unbeleuchtet, die Kaimauer längst vom Hochwasser überflutet. Warum lügt die Frau? Aus Angst?

Auch ihre beiden Begleiter tischten abenteuerliche Geschichten auf: Auf dem zwischen Brücke und Yachthafen ankernden historischen Aalschokker „Aranka“ hätten sich in der Nacht Menschen befunden, die den im Wasser Treibenden lautstark grölend angefeuert hätten (Aber die „Aranka“ ist nur mit einem Boot erreichbar). Die beiden Männer stritten auch ab, Jens Bleck an diesem Abend zuvor gesehen, geschweige denn gesprochen zu haben. So wie sie abstritten, ihre damals noch minderjährige weibliche Begleitung zu kennen – obwohl im privaten Umfeld des Trios einige enge Querverbindungen existieren.

Luftbild: Wichtige Orte des Falls

Beschwerde

„Auch für uns ist die Sachlage unbefriedigend“, versicherte Oberstaatsanwalt Faßbender auf Anfrage. „Es gab den Verdacht, dass die beiden Begleiter der jungen Frau in strafrechtlich relevanter Weise in den Tod des Herrn Bleck involviert sein könnten. Aber wir haben keine Beweise.“ Die Suizid-These hält auch Faßbender für abwegig.
Am 13. Mai 2015 öffnete die Rheinsubstanz zum letzten Mal ihre Türen. Zu einer „Wrecking Ball Party“. Danach sei Sommerpause, hieß es. Die erste Sommerpause seit der Eröffnung im Frühjahr 2010. Die Eigentümerin, die Bonner Berg GmbH, die das defizitäre städtische Hallenbad im Jahr 2004 für eine sechsstellige Summe kaufte und aufwendig zur Disco umbaute, meldete das Gewerbe ordnungsgemäß bei der Stadtverwaltung ab. Die gewaltige Investition kann sich noch nicht amortisiert haben. Jetzt ist es Mitte Oktober. Bislang ist im Bad Honnefer Rathaus kein Antrag auf Wiedereröffnung eingegangen. Die Berg GmbH war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

Ist der Tod meines Sohnes eine Sachbeschädigung? Mutter von Jens Bleck

Als im Frühjahr fast zeitgleich eine weitere Diskothek im Siebengebirge schloss, bat die Honnefer Lokalredaktion des General-Anzeigers die Bonner Polizei um eine Bilanz. Auffällig seien die beiden Discos aus polizeilicher Sicht nie gewesen, sagte der zuständige Wachleiter. Es habe gelegentlich mal Ärger gegeben – und Sachbeschädigungen auf den Heimwegen. Alma Bleck empört immer noch, was sie damals lesen musste: „Ist der Tod meines Sohnes eine Sachbeschädigung?“

Die Eltern wollen über ihren Anwalt Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens einlegen.

Wenn Sie in der Nacht des 8/9. November 2013 in Bad Honnef etwas beobachtet haben oder Informationen zu der Diskothek „Rheinsubstanz“ haben, wenden Sie sich bitte an Wolfgang Kaes unter 0228/66880 oder per E-Mail an w.kaes@ga-bonn.de.

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Die Lösung im Fall Bleck scheint auf Ewig unklar zu bleiben. Foto: Volker Lannert

Fotos:

Volker Lannert und Frank Homann

Konzeption, Design und Programmierung:

Clemens Boisserée

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