Fußballreise ohne Fußball
Fußballfan. Das galt lange als Synonym für Prolet. Asozial. Oder bisweilen auch: Rechtsextrem.
Nichts davon trifft auf die Gruppe zu, die hier bei Nieselregen am Fuße einer gewaltigen Steinskulptur im ehemaligen Konzentrationslager Majdanek steht. 30 Männer und Frauen, Jugendliche und Erwachsene. Völlig unterschiedliche Menschen, die eines eint: ihre Leidenschaft für den Fußball-Bundesligisten Borussia Dortmund. Viele von ihnen folgen dem Verein zu seinen Spielen durch ganz Europa. Doch hier hin, in die polnische Kleinstadt nahe der Grenze zur Ukraine und rund 1200 Kilometer von Dortmund entfernt, verschlägt sie kein Fußballspiel.
Wichtige Begriffe
Fanbeauftragte sind Angestellte der Vereine. Laut Liga-Lizenzvorschrift muss jeder Bundesligist einen solchen beschäftigten. Sie sind das Bindeglied für Fans auf der einen und den Vereinsvertretern auf der anderen Seite. Fanprojekte sind unabhängiger vom Verein. Sie werden finanziell auch von der jeweiligen Kommune und dem Bundesland unterstützt. Ihre Angestellten sind meist Sozialpädagogen, die sich um präventive Arbeit mit Jugendlichen genauso kümmern wie um integrative Maßnahmen für auffällige Fans. Fanabteilungen sind ehrenamtlich geführte Abteilungen eines Bundesligavereins und dienen der Vermittlung zwischen Verein und Fans. Ultras sind die öffentlich wohl bekannteste Fangruppe. Sie koordinieren und beleben auf der einen Seite die Stimmung und Atmosphäre, neigen auf der anderen Seite zu Gewalt und zum Zündeln mit der umstrittenen Pyrotechnik.
Es ist Sommerpause. Der BVB hat eine mehrtägige Bildungsreise organisiert, nach Ostpolen, an einige Schauplätze der NS-Verbrechen. In Dortmund sind solche Angebote Teil eines Konzepts, mit dem der BVB seit 2013 gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit unter seinen Fans und in seinem Umfeld vorgeht. „Wir hatten dieses Jahr fast 100 Anmeldungen, drei Mal so viele wie wir annehmen konnten“, sagt Daniel Lörcher, Fanbeuftragter beim BVB und Organisator der Reise. Die Kosten trägt überwiegend der Verein.
In der schönen Welt des Fußballs braucht es meistens erst einmal schlechte Nachrichten, damit sich schlechte Angewohnheiten ändern. Beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) kann man ein Lied davon singen, beim Weltverband Fifa erst recht. Bei Borussia Dortmund hieß diese Angewohnheit: stilles Tolerieren von Rechtsextremen in den eigenen Reihen. Das ging Jahre, Jahrzehnte so.
Heute gilt der Verein als Aktivposten im Kampf der Fußballvereine gegen Rechtsextremismus. Robert Claus beobachtet die Aktivitäten der Bundesligaclubs seit Jahren, er ist Mitarbeiter der Kompetenzgruppe „Fankulturen und Sport bezogene Soziale Arbeit“ an der Universität Hannover: „In Dortmund gibt es seit etwa drei Jahren eine starke Entwicklung, sich der vorhandenen Probleme zu stellen. Dafür mussten sich die Ereignisse aber auch erstmal überschlagen.“
Was war passiert?
Nazi-Banner auf der Südtribüne
„Solidarität mit dem NWDO“. So verkündete es im August 2012 ein Banner auf der Südtribüne im Dortmunder Stadion. NWDO, das steht für „Nationaler Widerstand Dortmund“, eine damals gerade von NRW-Innenminister Ralf Jäger verbotene Neonazi–Kameradschaft, aus der später die Partei „Die Rechte“ hervorging. Und jetzt solidarisierten sich also Fans auf Europas größter Fantribüne mit dieser Vereinigung? Die Empörung war groß – und wurde noch größer, als knapp ein halbes Jahr später Mitarbeiter des Dortmunder Fanprojekts und des BVB bei einem Auswärtsspiel von Neonazis tätlich angegriffen werden.
Im Fußball gibt es heutzutage nicht den einen Typ Fan. Wer ein Stadion besucht, der findet hier ein Abbild der Gesellschaft: jung, alt, reich oder arm – alle finden Platz, auf Sitzplätzen in Höhe der Mittellinie oder auf Stehplätzen hinter dem Tor. Ein Abbild dieser Vielfalt findet sich auch in der Gruppe wieder, die sechs Tage lang durch Ostpolen reist. Lublin, Belzec, Majdanek, Zamosc und Sobibor – allesamt Schauplätze der so genannten „Aktion Reinhardt“, bei der die Nationalsozialisten zwischen Juli 1942 und Oktober 1943 Hunderttausende deportierten und umbrachten – darunter auch etwa 900 Juden aus der Region Dortmund.
Dortmunder Opfern auf der Spur
Wenn Fans Vorfälle melden wollen und abgewiesen werden, verheizen wir Zivilcourage Robert Claus, Fanforscher an der Universität Hannover
„Viele Teilnehmer kennen die Orte, an denen die Deportation der Opfer in Dortmund begann. Dadurch entsteht ein Bezug, der Interesse weckt. Wir erzählen die Geschichte einzelner Dortmunder und machen so die ganze Tragik und Grausamkeit greifbar“, erklärt Daniel Lörcher. Ins pädagogische Konzept der Reise gehören Vor- und Nachbereitungsseminare. Vor Ort wird ständig über das Erlebte gesprochen. Und wenn sich dann der Jugendliche von der Südtribüne angeregt mit der Mittvierzigerin von der Haupttribüne unterhält, stoßen Menschen aufeinander, die durch die Art ihres Fanseins so kaum zusammenpassen. „Unterschiedliche Fans kommen hier zusammen und werden zu einer starken Gruppe, in der man sich auch künftig, beispielsweise im Stadion, aufeinander berufen kann. Dass ist das vielleicht wichtigste Ziel solcher Angebote“, sagt Lörcher.
Die Dortmunder Südtribüne fasst 25.000 Menschen. Das Stadion in der Westfalenstadt ist das größte in Deutschland, mehr als 80.000 Zuschauer passen herein – und die Auslastung bei den BVB-Heimspielen liegt bei nahezu 100 Prozent. Solche Menschenmassen vereinen verschiedenste Weltanschauungen – eine Normalität. Doch an nahezu keinem Fußballstandort wurden organisierte Neonazis so lange toleriert wie in Dortmund. Wer sich gegen sie einsetzte, fühlte sich vom Verein schnell alleingelassen. „Das Schlechteste was passieren kann ist, wenn Fans Vorfälle melden und beispielsweise vom Ordnungsdienst schroff abgewiesen werden“, sagt Fanexperte Robert Claus. „Damit verheizen wir Zivilcourage.“
Erst nach den geschilderten Vorfällen und der daraus resultierenden Aufmerksamkeit der Medien reagiert der Verein. Das Team der fest angestellten Fanbeauftragten wird aufgestockt, Experten von außerhalb herangezogen und gemeinsam ein sogenanntes fünf Säulen-Konzept entwickelt (siehe Grafik). „Dadurch können wir unsere Arbeit jetzt besser strukturieren, organisieren, aber auch kontrollieren“, erklärt Lörcher. Wo früher einzelne Abteilungen im Verein einzelne Aktionen gegen Rechts ins Leben riefen, sollen nun alle Bereiche des börsennotierten Fußballunternehmens zusammenarbeiten.
Schock und Zuversicht
„Was ich hier sehe und höre“, sagt Marius, „das schockiert und macht mich gleichzeitig auch selbstsicherer.“ Marius heißt in Wirklichkeit anders, das Mitglied einer Dortmunder Ultra-Gruppe möchte seinen wahren Namen nicht in der Zeitung lesen. Auf dieser Reise besichtigt der 20-Jährige, wie viele aus der Gruppe, zum ersten Mal die ehemaligen Massenvernichtungslager der Nationalsozialisten. In Majdanek sind viele Gebäude erhalten geblieben. An den Wänden der Gaskammern sind noch die schimmernden Reste der Blausäure zu sehen, mit der die Menschen hier hingerichtet wurden.
Eine erhaltene Gaskammer im Konzentrationslager Majdanek.„Man fragt sich so vieles: Wie konnte es soweit kommen? Haben so viele weggeschaut oder es wirklich nicht mitbekommen? Und vor allem: Wieso gibt es heute noch Menschen, die so etwas gut oder richtig finden?“ Fragen eines jungen Mannes, der sich mit dem Schauplatz eines Verbrechens konfrontiert sieht, bei dem innerhalb weniger Wochen knapp 80.000 Menschen ihr Leben verloren haben. „Das sind vergleichsweise wenig Opfer“, sagt der Gruppenleiter bei der Führung. Im Vernichtungslager Belzec, das die Gruppe am Vortag besucht hat, kamen mehr als fünf Mal so viele Gefangene um.
Auch in Dortmund ermordeten Neonazis Menschen. Zwischen 1933 und 1945, aber auch in jüngerer Vergangenheit. In München läuft derzeit der NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe – unter anderem wegen des Mordes an einem türkischen Kioskbetreiber in Dortmund im April 2006. Nur ein Jahr zuvor erstach der Neonazi Sven K. in der Innenstadt den Punk Thomas Schulz.
Nazi-Hochburg Dortmund
Bis heute wird Dortmund immer wieder als Nazi-Hochburg bezeichnet. Und auch an dieser Stelle drängt sich Marius‘ Frage nach dem „wieso“ wieder auf. Wieso Dortmund? Innerhalb der Reisegruppe gehen die Meinungen auseinander. Da seien die Fehler in der städtischen Politik und – so klagen einige Teilnehmer – die der Dortmunder Polizei, die den Nazis zu viel durchgehen ließ und es immer noch tut. Da seien die Versäumnisse des Vereins, der lange wegschaute. Aber auch die eigenen Fehler. „Die Rechten konnten sich im Stadion viel zu lange wohlfühlen, weil wir Fans uns nicht koordiniert und den Mund gehalten haben“, sagt einer.
Als Fan von Borussia Dortmund gegen Rassismus zu sein, soll selbstverständlich werden Daniel Lörcher, Fanbeauftragter von Borussia Dortmund
Mittlerweile gründeten sich einzelne Fanclubs, die sich, neben der Unterstützung des BVB, vor allem der Arbeit gegen Rassismus verschrieben haben. Sie sind auf Demonstrationen aktiv, organisieren Gedenkveranstaltungen oder Ausstellungen. Die Fanabteilung, ein offizieller Teil des Vereins mit rund 15.000 Mitgliedern, startete die Kampagne „Kein Bier für Rassisten“ und verteilte eine Million Bierdeckel mit dieser Botschaft unter Dortmunds Gastronomen. Und im Stadion bezogen die BVB-Ultras in Form von Spruchbändern zuletzt immer wieder deutlich Position gegen Rechts.
„Es gibt Vereine wie Werder Bremen oder St. Pauli, da ist so etwas Normalität . Dort gehört die Positionierung gegen Rassismus seit langer Zeit zum Selbstverständnis von Fans und Verein. In Dortmund ist das eine ziemlich neue Entwicklung“, sagt Fanforscher Robert Claus. Eine Entwicklung, die auch auf jener Selbstsicherheit basiert, von der BVB-Ultra Marius in Majdanek spricht: „Man fühlt sich in seiner Meinung bestärkt. Das es richtig ist, sich dafür einzusetzen, dass so etwas nie mehr passiert“, beschreibt er und findet Zustimmung beim Rest der Gruppe.
Kein Ende in Sicht
Der letzte Abend der Reise ist angebrochen. Die Geschichte der 900 deportierten Dortmunder ist erzählt, ihr Weg und der von mehr als zwei Millionen Juden, die bei der „Aktion Reinhardt“ ermordet wurden, erkennbarer, die Grausamkeit der NS-Verbrechen noch bewusster. Beim Abschlussbier wird erzählt, zugehört, diskutiert. Über das Erlebte der vergangenen Tage, eindrucksvolle und nachdenkliche Momente – und wie sich die Erfahrungen auf den Alltag auswirken sollen. „Solche Fahrten müssen eine nachhaltige Wirkung erzeugen“, erklärt der Fanbeauftragte Lörcher und nennt das Ziel all der Arbeit: „Es soll ein Selbstverständnis werden, als BVB-Fan gegen Rassismus und Diskriminierung zu sein.“
Engagement für Flüchtlinge
Rassismus und Diskriminierung aus den Stadien zu verbannen, ist das Eine. Seit einiger Zeit hat die Bundesliga allerdings zusätzlich eine neue gesellschaftliche Aufgabe erreicht: die Flüchtlingskrise. Fans heißen Flüchtlinge per Plakat willkommen, Spieler positionieren sich bei Facebook, die Teams drehen eigene Videos – aber es wird auch konkret geholfen. Nahezu alle Vereine, darunter der 1. FC Köln oder Mainz 05, haben Flüchtlinge ins Stadion eingeladen. Andere, wie der FC Bayern, unterstütz-en Projekte finanziell. Der Hamburger SV stellte für eine Notunterkunft einen Stadionparkplatz für 1300 Flüchtlinge zur Verfügung. Andere Vereine bieten Fußball-Camps an, sammeln Spenden oder organisieren eigene Flüchtlingsinitiativen. Die Bundesliga-Stiftung startete das Projekt „Willkommen im Fußball“ und stellt dafür 750.000 Euro zur Verfügung.
Ein Wunschzustand, der sich längst noch nicht mit der Realität deckt. Weder im Fußball grundsätzlich, noch in Dortmund im Speziellen. Deshalb will der BVB auch künftig Bildungsarbeit leisten, ob weiterhin in Form von Gruppenfahrten ist noch unklar. „Wir planen aktuell, wie es weitergeht. So eine Bildungsfahrt bedeutet einen unglaublichen Aufwand“, sagt Lörcher. Gleichzeitig soll nun das lokale Engagement und die Zusammenarbeit vor Ort ausgeweitet werden. Das rechte Problem des Vereins ist vor allem auch ein Problem der Stadt Dortmund und ihrer Zivilgesellschaft.
„Die Arbeit gegen Rechts wird für Borussia Dortmund auch auf lange Sicht nicht beendet sein“, sagt der Fanexperte Robert Claus. Aktuelle Vorfälle bestätigen ihn: Nach ihrer öffentlichen Positionierung gegen die Partei „Die Rechte“, wurden die Dortmunder Ultras zu Beginn der Saison vor den Räumen des Fanprojekts von Neonazis provoziert. Immer wieder kommt es seither zu Auseinandersetzungen. „Wir beobachten das, sprechen regelmäßig mit den Gruppen und versuchen, Übergriffe zu verhindern“, erklärt Lörcher. Er und andere sind auch selbst schon zur (digitalen) Zielscheibe geworden. So veröffentlicht das Portal „Dortmundecho“, hinter dem „Die Rechte“ steckt, immer wieder diffamierende Beiträge gegen die Fanbeauftragten, den Verein und einzelne Fans. Aber immerhin sie müssen damit im Netz bleiben. Im Stadion finden sie keine Plattform mehr – ein erster Erfolg.
Bundesliga gegen Rechts
Nicht nur in Dortmund wird längst gegen rassistische und diskriminierende Vorfälle in den Stadien vorgegangen. Fast alle Vereine organisieren Projekte gegen rechte Tendenzen in der Fanszene.
Seit Beginn der Flüchtlingsthematik ist soziales Engagement in aller Munde. Die Bundesliga und ihre Vereine werben unter den eigenen Fans für Toleranz und gegen Rechtsextremismus – mit unterschiedlichem Einsatz. Der GA hat alle 18 Bundesligisten zu ihrer Arbeit befragt.
Fotos:
AFP (Titelfoto), Clemens Boisserée
Videos:
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Konzeption, Design und Programmierung:
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