Kapitel
Islamistenszene

Fanal der Dschihadisten

Nach den Ausschreitungen am 5. Mai 2012 in Lannesdorf

Die Straßenschlacht, die sich militante Islamisten am 5. Mai 2012 in Lannesdorf mit der Polizei lieferten, ist bis heute beispiellos. Die Beamten erlebten eine Explosion der Gewalt, bei der 29 Polizisten zum Teil schwer verletzt wurden.

Aus heutiger Sicht erscheint dieser Tag wie ein Auftakt für den Dschihad in Syrien und Somalia. Denn einige der Gewalttäter zogen anschließend in den Krieg, andere ziehen bis heute die Strippen in der Islamistenszene.

Die Hauptakteure

Der 5. Mai 2012 in Lannesdorf war ein Tag, der in die Geschichte der Bonner Polizei einging. Nach einer gezielten Provokation der islamfeindlichen Partei Pro NRW mit Mohammed-Karikaturen erlebten die Beamten einen Ausbruch islamistischer Gewalt, „mit der niemand gerechnet hatte“, sagt noch heute der Sprecher der Bonner Polizei, Robert Scholten.

Im Rückblick erscheint jener Tag wie ein Fanal für die gesamte deutsche Dschihadistenszene. Denn einige Teilnehmer setzten sich anschließend in Bürgerkriegsgebiete in Syrien und Somalia ab. Die Hauptakteure des 5. Mai gehören aus heutiger Sicht zum „Who is who“ der deutschen Islamistenszene. Einige von ihnen werden im Folgenden porträtiert, wobei diejenigen, die der breiten Öffentlichkeit durch die mediale Berichterstattung bekannt sind, mit vollem Namen, die anderen nur mit abgekürzten Nachnamen genannt werden:

Denis Cuspert, der Rädelsführer
Denis Cuspert wird abgeführt. Foto: Gottschalk

Schon 2010 hatte der Berliner Ex-Rapper Deso Dogg alias Denis Cuspert Kontakte zur Bonn-Kölner Gruppierung „Die wahre Religion“. Nachdem ein Islam-Seminar der Extremisten in einer Beueler Moschee auf öffentlichen Druck hin abgesagt worden war, trafen sich die Teilnehmer im Eifelstädtchen Mayen. Ein Internetvideo von damals zeigt Cuspert, wie er freudestrahlend singt: „Wir zieh’n in den Dschihad.“ Immer wieder hatte er als Kopf der später verbotenen Gruppierung Millatu Ibrahim Kontakt zur Bonner Salafistenszene. Nach den Krawallen von Lannesdorf, deren Rädelsführer er laut Polizei war, entzog sich Cuspert der Strafverfolgung, indem er untertauchte und über Nordafrika ins syrische Bürgerkriegsgebiet reiste, wo er sich bald ISIS, wie sich die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) damals noch nannte, anschloss. Cuspert war – und ist mutmaßlich immer noch – für deutsche Propaganda-Seiten des IS zuständig und wurde zum „Star“ der deutschsprachigen Dschihadistenszene. Immer wiederkehrende Gerüchte über seinen Tod im Dschihad trugen mit zu seinem zweifelhaften Ruhm bei. Immerhin hat der vaterlos Aufgewachsene das erreicht, was er sich als Jugendlicher gewünscht haben soll: „Irgendwie berühmt werden.“

Brahim Belkaid, einer der Köpfe der „Wahren Religion“
Brahim Belkaid, bekannt wegen der Koranverteilaktion „Lies“.

Brahim Belkaid, bekannt wegen der Koran-Verteilaktion „Lies“. (Screenshot: Youtube)

Vertreter dieser extremistischen Gruppierung aus dem Rheinland gelten als Drahtzieher der gewalttätigen Ausschreitungen am 5. Mai. Schon seit Jahren sehen Islamismus-Experten enge Bezüge der „wahren Religion“ zum dschihadistischen Netzwerk. Einer der Köpfe der Gruppierung, Brahim Belkaid alias Abu Abdullah, war einer der Hauptredner auf der Bühne in Lannesdorf. Der Bonner warnte ausdrücklich davor, die Mohammed-Karikaturen in Deutschland zuzulassen. Andernfalls werde „ein Übel passieren“. Wenig später begann die Straßenschlacht. Gegen Belkaid wurde ein Strafverfahren wegen Landfriedensbruch eingeleitet. Laut Staatsanwaltschaft Bonn hält sich Belkaid an einem unbekannten Ort auf, weshalb das Verfahren gegen ihn ruhe. Aus Sicherheitskreisen erfuhr der GA, Belkaid lebe mittlerweile in Großbritannien. Ein Internetvideo zeigt, wie er jüngst in London Korane der „Lies“-Aktion verteilte – einer Kampagne, die Belkaid selbst seit Jahren zusammen mit den in Bonn lebenden anderen beiden Köpfen der „wahren Religion“, Ibrahim Abou Nagie und Said El-Emrani, organisiert.

Reda Seyam, der IS-Minister
Der Deutsch-Ägypter Reda Seyam – hier vor der Flagge der Terrormiliz Islamischer Staat. Screenshot: Youtube

Der Deutsch-Ägypter ist sicher die schillerndste und berüchtigste Figur der deutschen Dschihadistenszene. Deutschlandweite Bekanntheit erlangte er, weil er seinen Sohn „Dschihad“ nennen wollte. Der Berliner Innensenator legte Beschwerde gegen einen entsprechenden Gerichtsbeschluss ein. Laut einem Urteil vom 2. September 2009 durfte der Sohn „Djehad“ heißen. Schon im Bosnienkrieg hatte Seyam 1994 als Dschihadist Muslime im Kampf gegen die Serben unterstützt. 2002 soll Seyam in das Bombenattentat von Bali verwickelt gewesen sein, bei dem 202 Menschen starben. Das BKA überführte ihn nach Deutschland; für seine Aktivitäten im Ausland wurde Seyam aber nie zur Rechenschaft gezogen. Von 2004 an lebte er in Berlin-Charlottenburg von Sozialhilfe und produzierte Propagandavideos für Anhänger des Salafismus. Während dieser Zeit pflegte er den Kontakt zu Denis Cuspert alias Deso Dogg.

Auch in Lannesdorf dokumentierte Seyam die Krawalle für eine islamistische Internetseite. Er war sozusagen der Kameramann des 5. Mai 2012 und lieferte später die Bilder mit der mutmaßlich gewünschten Wirkung: Der Staat schützt die Feinde des Propheten Mohammeds, sprich Pro NRW, und bekämpft stattdessen die „Verteidiger des Propheten“. Am 19. August 2013 berichtete das ARD-Magazin Report auf seiner Website, der „Top-Islamist“ Reda Seyam sei im syrischen Bürgerkrieg aktiv. Videoaufzeichnungen wurden von Fachleuten für echt gehalten. Laut Informationen des Rechercheverbundes von NDR, WDR und der Süddeutschen Zeitung war Seyam zuletzt unter dem Kampfnamen Dhul Qaranain gar zum „Bildungsminister“ des Islamischen Staates ernannt worden. Die Regierung des Irak bestätigte am 16. Dezember 2014 seinen Tod; zuvor hatte eine Nachrichtenagentur gemeldet, er sei Anfang Dezember 2014 bei Gefechten nahe Mossulgetötet worden. Im Januar 2015 wurde bekannt, dass er wahrscheinlich noch am Leben sei.

Fared S., der Brutalo-Dschihadist
Der Bonner Islamisten Fared S. in einem Gräuelvideo aus dem syrischen Bürgerkrieg.

Der Bonner Islamist Fared S. in einem Gräuelvideo aus Syrien. Screenshot: Youtube

Ein Kampfgefährte Denis Cusperts aus Bonn ist Fared S. Er war nach den Krawallen in Lannesdorf wegen Landfriedensbruchs im März 2013 zu acht Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden, bevor er kurz darauf in den syrischen Bürgerkrieg abtauchte und sich später mit Denis Cuspert der Terrormiliz Islamischer Staat anschloss. Er machte auf brutale Weise auf sich aufmerksam, als er im Sommer 2014 in einem Gräuel-Internetvideo neben Leichen in Syrien posierte und sie verhöhnte. Im Hintergrund hört man die Stimme Cusperts, der offensichtlich das Video gedreht hat. Fared S. war nach islamischen Recht mit der Deutsch-Polin Karolina R. verheiratet. Die Bonnerin war voriges Jahr als erste Frau verurteilt worden, weil sie ihrem Mann als IS-Mitglied Geld und Nachtsichtgeräte hatte zukommen lassen.

Spätestens im Laufe des Gerichtsprozesses schien sich die junge Frau bewusst geworden zu sein, welches Kaliber ihr Mann war. Jedenfalls distanzierte sie sich am Ende von ihm und sprach von Trennung. Ihr mittlerweile in Syrien getöteter Bruder Maximilian hatte seinen Schwager in den Dschihad begleitet; auch er laut Polizei war in Lannesdorf dabei.

Sabri El-D., der Möchtegern-Leibwächter
Sabri El-D. versuchte nach Lannesdorf nach Syrien auszureisen – vergeblich.

Sabri El-D. versuchte nach Lannesdorf nach Syrien auszureisen – vergeblich. Screenshot: Youtube

Der Zwei-Meter-Hüne war allein aufgrund seiner Statur in Lannesdorf nicht zu übersehen. Die Polizei bezeichnet den Bonner neben Cuspert als einen der Hauptakteure der Krawalle. Ob gegen ihn ermittelt wurde, kann die Bonner Staatsanwaltschaft nicht beantworten. Es gebe keine Ermittlungsakte. Später versuchte er mehrfach vergeblich, in den Dschihad nach Syrien zu reisen. Dort wollte der 30-Jährige sich zunächst als Leibwächter eines Dschihadistenführers verdingen. Letztlich scheiterte er und wurde im Juni zu drei Jahren Haft verurteilt – allein schon wegen des Versuchs, sich einer ausländischen terroristischen Vereinigung anzuschließen. Es war die erste Verurteilung dieser Art. 

Abdirazak B., der Selbstmordattentäter
Abdirazak B. – hier ein Videoscreenshot, der ihn in Bad Godesberg 2010 zeigt – starb als Selbstmordattentäter.

Abdirazak B. – hier in einem Video 2010 – starb als Selbstmord-Attentäter. Screenshot: Youtube

Der frühere Kicker des SF Brüser Berg hat den Dschihad in seiner radikalsten Konsequenz gekämpft: Im Juli vorigen Jahres jagte er sich mit einem mit Sprengstoff beladenen Auto als somalischer Al-Schabaab-Kämpfer in Mogadischu vor einem Luxushotel in die Luft und riss 18 Menschen mit in den Tod. Mehrere Dutzend weitere wurden verletzt.  In Bonn galt Abdi oder Zak, wie ihn seine Freunde nannten, als gut integriert. Der 1985 in Libyen geborene Mann radikalisierte sich dann mutmaßlich Mitte der 2000er Jahre. Erstmals 2008 wollte er mit einem Freund nach Somalia in den Dschihad ausreisen – was die Polizei verhinderte. B. gehörte zu einer 15-köpfigen Gruppe „Deutsche Schabaab“, darunter mehrheitlich Deutsch-Somalier, die sich laut Verfassungsschutz in einer kleinen Bonner Moschee trafen. Indoktriniert wurden sie mutmaßlich von dem Prediger Hussein Kassim M. Abidarazak B. gehörte auch einem Kreis an, der Korane verteilte, wie ein Internetvideo von 2010 belegt, das ihn in der Bad Godesberger Innenstadt an einem Stand zeigt.

Nach GA-Informationen war B. ebenfalls an den Krawallen in Lannesdorf beteiligt. Später reiste er über Umwege nach Somalia aus, wo er die früheren Weggefährten der „Deutschen Schabaab“-Gruppe Bonn traf: Mounir T. und vier weitere Islamisten, die im Juli vom Oberlandesgericht Frankfurt zu mehrjährigen Haftstrafen wegen Mitgliedschaft bei der Al-Schabaab-Terrormiliz verurteilt wurden. 

Bernhard Falk, der Gefangenen-Kümmerer
Bernhard Falk war in Lannesdorf Zaungast.

Bernhard Falk war in Lannesdorf Zaungast. (Foto: DPA)

Wie gut vernetzt die Dschihadistenszene schon 2012 war, belegt auch der Fall des ehemalige Linksterroristen Bernhard Falk (48). Auch er war in Lannesdorf dabei, aber wohl eher als Beobachter. Und das aus gutem Grund: Bis 2008 saß er im Gefängnis, weil er wegen vierfachen Mordversuchs und mehrerer Sprengstoffanschläge zu 13 Jahren Haft verurteilt worden war. Er wurde auf Bewährung vorzeitig aus der Haft entlassen. Falk war schon vor seinem Haftantritt zum Islam konvertiert und gab den Islamisten. Aus seiner Bewunderung für Al-Kaida macht er keinen Hehl, aber auch nicht aus seiner Ablehnung für den IS. Ohnehin wirkt Falk mit seinen Ansichten wie ein Fossil aus dem vergangenen Jahrhundert. Auf seiner Facebook-Seite benutzt er auch als Islamist gerne noch Begriffe aus alten RAF-Zeiten. Dabei weiß er genau, was er sagt, damit er sich nicht strafbar macht. Seine Hauptaufgabe scheint die Unterstützung von angeklagten oder verurteilten Islamisten zu sein, die er „politische Häftlinge der BRD“ nennt.

Im Prinzip ist er bei jedem Islamistenprozess als Beobachter anwesend und berichtet anschließend auf Facebook über die Verfahren. Falk schreibt Inhaftierten Briefe, besucht sie und ruft die „muslimischen Geschwister“ dazu auf, es ihm gleichzutun. Außerdem „unterstützt“ er Eltern von Angeklagten und vermittelt Anwälte. Anders als viele Salafisten und Islamisten ist er Journalisten gegenüber sehr auskunftsfreudig. Der Verfassungsschutz schätzt Falk als einen der gefährlichsten Islamisten ein. Dem GA gegenüber nannte er Terroranschläge einmal als nachvollziehbare Reaktionen von unterdrückten Muslimen.

Yassin Chouka, der Anstifter
Der Bonner Yassin Chouka soll im Iran ums Leben gekommen sein.

Der Bonner Yassin Chouka soll im Iran ums Leben gekommen sein. (Screenshot: Youtube)

Obwohl sich der Kessenicher 2012 schon jahrelang als Dschihadist im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet aufhielt, muss auch er bestens über Lannesdorf informiert gewesen sein. Unmittelbar nach dem 5. Mai rief er übers Internet in einem Video dazu auf, „alle Pro-NRW-Politiker zu töten“, weil sie mit ihrer Mohammed-Karikatur den Propheten der Muslime verhöhnt hätten. Der zuletzt in Bonn wohnende Marco G. und drei Komplizen wollten dem Aufruf Taten folgen lassen und versuchten, den Pro-NRW-Politiker Markus Beisicht zu töten. Die Tat wurde vereitelt.  Marco G. muss sich zurzeit nicht nur wegen des Attentatsversuchs, sondern auch wegen des versuchten Bombenanschlags auf dem Bonner Hauptbahnhof vom Dezember 2012 vor Gericht verantworten.

Anfang 2015 meldete der „Spiegel“, Yassin Chouka sei offenbar im Iran ums Leben gekommen. Er und sein Bruder Mounir – vor 2010 neben dem ebenfalls aus Bonn stammenden Al-Kaida-Dschihadisten Bekkay Harrach die bekanntesten deutschen Dschihad-Propagandisten – seien bei der Einreise in den Iran in eine Polizeikontrolle geraten. Als sie sich widersetzt hätten, sei Yassin Chouka getötet und sein Bruder verletzt worden. Dieser sitze im Gefängnis. Die Brüder hatten immer wieder in Propagandavideos zu Anschlägen in Deutschland aufgerufen.

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Foto: Kohls

Ermittlungen gegen die Teilnehmer

Die einen zogen als „Gotteskrieger“ nach Syrien, andere machten Karriere bei der Terrormiliz Islamischer Staat, ein weiterer Islamist sprengte sich drei Jahre später in Somalia als Selbstmordattentäter in die Luft. Im Rückblick mutet der 5. Mai 2012, an dem sich in Lannesdorf muslimische Extremisten eine brutale Straßenschlacht mit der Polizei lieferten, wie eine Initialzündung für die deutsche Dschihadistenszene an. Und „Lannesdorf“ wirkt bis heute nach.

So musste sich erst vor Kurzem Mounir T. (32) aus Bonn vor dem Frankfurter Oberlandesgericht für seine Mitgliedschaft bei der extremistischen Al-Shabaab-Miliz in Somalia verantworten. Das Gericht verurteilte den Deutsch-Tunesier und vier Komplizen zu mehrjährigen Haftstrafen. Sie alle waren von Bonn aus 2012 in den Dschihad nach Ostafrika gezogen. Und zumindest Mounir T. war einer der Akteure am 5. Mai 2012 in Lannesdorf: Der Mann, der in Bornheim Abitur machte, Maschinenbau studierte und Hiphop-Beats komponierte, bevor er sich radikalisierte, war von Polizisten mit einer Steinschleuder mit Stahlkugeln aufgegriffen worden, betonte das Gericht in seiner Urteilsbegründung und wollte damit die Eskalation seiner Gewalttätigkeit verdeutlichen. Mounir T. hatte sich nach dem 5. Mai 2012 in den Dschihad aufgemacht – wie eine ganze Reihe anderer Islamisten. Während die einen nach Somalia reisten, zogen andere – die Polizei schätzt mindestens zehn – in den syrischen Bürgerkrieg.

Dass „Lannesdorf“ bis heute nachwirkt, belegen auch die bis heute andauernden Ermittlungen: „Wir haben noch etwa 30 offene Ermittlungsverfahren, in denen es um möglichen Landfriedensbruch, Körperverletzung und/oder Sachbeschädigung am 5. Mai 2012 geht“, sagt der Sprecher der Bonner Polizei, Robert Scholten. Das mag verwundern, wo doch schon etwa 60 Teilnehmer an den Krawallen 2012 rechtskräftig verurteilt wurden. Doch von vielen weiteren Männern hat die Polizei bis heute Fotos oder Videomaterial, das darauf wartet, dass die darauf abgebildeten Männer namentlich ermittelt werden.

Insgesamt hat die Polizei in 151 Fällen ermittelt, 100 Fälle davon richteten und richten sich gegen Personen, die nicht aus dem Beritt der Bonner Polizei kommen. 109 Teilnehmer waren am 5. Mai 2012 vorübergehend festgenommen worden. „Knapp zwei Drittel der etwa 600 Teilnehmer waren damals zwischen 21 und 30 Jahren alt“, sagt Scholten.

Nicht selten kamen die Ermittler erst über Umwege an die delinquenten Randalierer. So hatte man zwar Handabdrücke eines damals 19-Jährigen, der mit anderen einen der Mannschaftswagen der Polizei aufgeschaukelt hatte. Polizisten stießen aber erst im Mai dieses Jahres auf den Mann – und zwar wegen eines kleinkriminellen Delikts,. „Jetzt wird gegen ihn ermittelt“, sagt Scholten. Und dass nicht nur in Sachen 5. Mai 2012; auch der Staatsschutz untersucht, ob und welche Rolle der Mann heutzutage in der Islamistenszene spielt.

So eine Eskalation der Gewalt hat es weder vorher noch hinterher gegeben. Robert Scholten, Pressesprecher der Bonner Polizei

Dass die Strafverfolgungsbehörden beharrlich den 5. Mai 2012 aufarbeiten, hat auch mit der damaligen Wirkung zu tun. „Grundsätzlich entscheidet die Staatsanwaltschaft, wie lange ermittelt werden kann. Es geht hier nicht nur um Straftatbestände wie Landfriedensbruch, Körperverletzung und Sachbeschädigung. Es geht auch um die Frage, wer zur Salafistenszene gehört“, so Scholten. Außerdem sei der 5. Mai ein Ereignis gewesen, das Deutschland noch nicht erlebt hatte. „Die Krawalle stellten damals eine unglaubliche Entladung an Gewalt dar, mit der niemand gerechnet hatte. Es hagelte Steine, Einzelteile aus Vorgärten, Eisenstangen. So etwas hat es weder vorher noch hinterher gegeben“, sagt Scholten auch mit Blick auf die Randale von Hooligans zwei Jahre später in der Kölner Innenstadt.

Murat K. bleibt in Haft

Foto: Frommann

Murat K. bleibt in Haft. Der Türke aus Sontra in Hessen war am 5. Mai 2012 bei den Krawallen militanter Islamisten in Lannesdorf derjenige, der am gewalttätigsten vorging: Mit einem Messer verletzte der damals 26-Jährige zwei Polizisten – eine Beamtin und einen Beamten – an den Oberschenkeln schwer.

Das Bonner Landgericht verurteilte den geständigen Angeklagten im Oktober 2012 daraufhin wegen gefährlicher Körperverletzung, Landfriedensbruch und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte zu sechs Jahren Haft.

Die Staatsanwaltschaft Bonn sagte jetzt dem GA auf Anfrage, K. müsse voraussichtlich noch bis Juni 2018 im Gefängnis bleiben. Das zuständige Landgericht Kassel hatte nämlich jüngst K.s Antrag auf vorzeitige Haftentlassung abgelehnt. Damit verbüßt er die volle Haftstrafe.

Der Bundesgerichtshof hatte den Schuldspruch im Oktober 2013 zwar bestätigt, aber eine zu knappe Begründung der Haftstrafe beanstandet. In der Neuverhandlung zur Strafhöhe blieb K. bei seiner religiös motivierten Haltung, dass Rechtsextreme von Pro NRW mit dem Hochhalten von Mohammed-Karikaturen den Propheten und damit alle Muslime beleidigt hätten. Er habe das Recht, auch mit Gewalt gegen solche Provokationen vorzugehen, so K. Für ihn seien nur der Koran und die Scharia maßgeblich, die ihm das Recht gäben, auch mit Gewalt gegen Ungläubige vorzugehen. Der Muslim hielt im Gerichtssaal den Koran hoch und warf Grundgesetz-Blätter vor den Richter.(dpa/val)

Anders als in Köln stellte sich in Lannesdorf zu spät heraus, dass die Polizei mit etwas mehr als 300 Beamten auf die etwa 50-minütigen Ausschreitungen, bei denen 29 Polizisten verletzt wurden – zwei von ihnen dabei durch Messerstiche schwer –, kaum angemessen reagieren konnte. Zwar war es ein Wochenende, an dem mit „Rhein in Flammen“ und Bundesligaspielen in NRW viele Polizisten in Einsätzen gebunden waren. Doch ganz so überraschend kamen die Krawalle in Lannesdorf nicht. Der Rädelsführer Denis Cuspert, damals Kopf der inzwischen verbotenen Gruppierung Millatu Ibrahim und Deutschlands bekanntester IS-Dschihadist in Syrien, hatte nach GA-Informationen schon Wochen vorher hinter vorgehaltener Hand angekündigt, man werde in Solingen und Bonn gegen die Mohammed-Karikaturen der rechtspopulistischen Partei Pro NRW aufmarschieren. In der Tat war es bereits am 1. Mai zu wütenden Protesten von Salafisten in Solingen gekommen. Entsprechend hatte es auch im Bonner Polizeipräsidium durchaus Sorge gegeben, dass der Einsatz in Lannesdorf robust werden könnte – das jedenfalls ließ sich zumindest aus telefonischen Einweisungen für Medienvertreter am Vorabend der Demonstration heraushören.

Denn auch die Polizei hatte auf entsprechenden Internetseiten verfolgen können, welcher Reigen einschlägig bekannter Islamisten sich auf den Weg nach Bonn machte. Weil dies auch dem offiziellen Anmelder der Demonstration, dem „Rat der Muslime in Bonn“ (RMB), spätestens mit Demobeginn aufgefallen sein musste, musste dieser sich später dafür rechtfertigen, die Veranstaltung dennoch durchgeführt zu haben. Auch kritisierte die Polizei den RMB, weil er zur Eskalation beigetragen hätte. Grund: Die Ordnungskräfte hatten extra mehrere Mannschaftswagen als Sichtschutz zwischen beiden Seiten platziert. Dass Pro NRW irgendwann die Mohammed-Karikaturen hervorzog, bekam ein Großteil der demonstrierenden Muslime somit erst durch das empörte Geschrei des Veranstaltungsleiters des RMB mit.

Da aber hatte man sich unter den Augen der Polizei bereits auf Konfrontationen eingestimmt. Noch vor Beginn der Kundgebung ließ sich die Menge auf der Straße demonstrativ zum Gebet nieder – in vorderster Reihe und in Tarnjacke: Dennis Cuspert. Das danach folgende „Allahu akbar“ aus hunderten Kehlen mutete an wie eine martialische Kampfansage an Pro NRW – und an die Polizei. Die hatte bei Zugangskontrollen weder das Messer sicherstellen können, mit dem wenig später eine Kollegin schwer verletzt wurde; noch war es offenbar zu verhindern gewesen, dass sich anreisende Demonstranten bereits am Mehlemer Bahnhof mit Steinen aufmunitionierten. Auch wurde später spekuliert, dass bereits im Vorfeld Wurfgeschosse vor Ort hinterlegt worden sein könnten. Anschließend hatte sich die Bonner Einsatzleitung bei ihren Kollegen gar für die Fehleinschätzung der Lage entschuldigt.

Mittlerweile füllen die „Lannesdorf“-Akten der bis heute andauernden Ermittlungen 100 Ordner. „Wir meinten damals, die Salafistenszene damals zu kennen, aber nach dem 5. Mai zeigte sich, wer noch alles dazu gehörte.“ Anders als die Bonner Polizei kann die Staatsanwaltschaft keine Angaben mehr zum Stichwort „5. Mai“ machen, denn die Akten seien nicht systematisch archiviert, bedauert selbst der Sprecher der Staatsanwaltschaft. Erstaunlich ist auch, dass es trotz dieser Schlacht militanter Muslime auf deutschen Straßen und der Teilnahme des „Who is Who“ der deutschen Islamistenszene bis heute keine systematische oder gar wissenschaftliche Aufarbeitung gegeben hat.

Aufmacherfoto:

Roland Kohls

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